Arbeiten und Artikel zum Thema ASS

Artikel, Beiträge, Texte über und von Menschen mit Autismus sind wichtig Wir unterstützen Medien in der Erarbeitung von Artikeln oder helfen mit, wenn über Sensibilisierungsprojekte berichtet wird. Untenstehend finden Sie einen Auszug von verschiedenen Artikeln.


Ein Erfahrungsbericht von Benno Luthiger, eines Erwachsenen mit Asperger

Personen mit Asperger-Syndrom bewegen sich in der Gesellschaft, als hätten sie eine Tarnkappe übergestülpt bekommen. Sie fallen nicht auf und finden keine Beachtung. Eine solche Unsichtbarkeit kann viele Formen annehmen, wie folgendes Beispiel zeigt: Ein Mann mit Asperger wurde zu einer Geburtstagsfeier eingeladen. Der Jubilar hatte einen grossen Freundeskreis, deshalb kamen viele Personen mit ganz unterschiedlichem Hintergrund zu diesem Fest zusammen. Um den Austausch zwischen den Gästen zu erleichtern, stellte der Jubilar in seiner Ansprache reihum alle Gäste vor und erzählte über seinen Bezug zur jeweiligen Person. Eine Person ging allerdings bei dieser Vorstellungsrunde vergessen: es war der Gast mit dem Asperger-Syndrom.

Aufmerksamkeits-Defizit
Wie kommt es, dass Personen mit Asperger-Syndrom immer wieder erfahren müssen, bloss als second class citizens wahrgenommen zu werden? Ein Grund ist sicher, dass Menschen mit Asperger einen zurückhaltenden Auftritt pflegen, was ihr Erscheinungsbild und Kommunikationsverhalten betrifft. Aber auch ihre inhaltlichen Äusserungen tragen dazu bei, dass sie nicht wahrgenommen werden. Hier ist es allerdings ein anderer Mechanismus am Wirken.

Personen mit Asperger sind überdurchschnittlich genau und kritisch, auch sich selbst gegenüber. Diese Besonderheit äussert sich beispielswiese darin, dass Asperger leichtfertig geäusserte Behauptungen nicht einfach hinnehmen wollen, sondern diese skeptisch hinterfragen. In intellektuellen Diskurs wird dies als Verhalten von mündigen und selbstbewussten Bürgern gelobt. Im kollegialen Umfeld, wo nicht geschäftliche und fachliche Fragen, sondern gesellschaftliche Themen verhandelt werden, löst ein solches Verhalten oft Irritationen aus.

Diskussionen im Freundeskreis sind meist mit grundlegenden ideologischen Haltungen unterlegt, zu Glaube, Gerechtigkeit oder Freiheit beispielsweise. Für den Zusammenhalt und das Zusammenspiel einer Peergruppe ist entscheidend, dass ein grundsätzlicher Konsens über deren ideologische Ausrichtung besteht. Wie andere Menschen auch wird sich der Asperger eine Peergruppe suchen, in welcher er sich bezüglich seiner ideologischen Einstellungen wohlfühlt, in welcher er sich aufgehoben und akzeptiert sieht. Doch während normale Menschen ihre Einbindung in der Peergruppe über Jahre aufrechterhalten können, ist diese Einbindung bei Aspergern vielfach gefährdet. Die mangelnde Fähigkeit von Personen mit Asperger, die Stimmungen in der Gruppe wahrzunehmen, und mehr noch ihre Bereitschaft, die grundlegenden Annahmen des Gruppenkonsenses in Frage zu stellen und ihre eigenen Ansichten aufgrund von neuen Erkenntnissen anzupassen, wird den Asperger früher oder später in Konflikt mit seinem Kollegenkreis bringen.

Die Schwierigkeiten, die ein Asperger in einer Peergruppe hat und verursacht, hat nichts mit böser Absicht zu tun. Der Grund für solche Schwierigkeiten ist vielmehr, dass sich der Asperger, was seine Ansichten betrifft, asynchron zur akzeptierten Meinung in der Gruppe entwickelt. Wo die Gruppenmeinung modischen Schwankungen folgt, wird der Asperger auf seiner Meinung beharren, solange er sie als fundiert erachtet. Wo die Gruppe eingespielte Argumentationen hochhält, auch wenn diese auf Annahmen beruhen, welche nicht mehr länger aufrechterhalten werden können, so wird der Asperger ungerührt ideologischen Ballast über Bord werfen, sobald diese seinen neuen Erkenntnissen widersprechen. Wo die Gruppenmitglieder bereit sind, grosse Widersprüche zwischen ihren postulierten Haltungen und ihrem Verhalten hinzunehmen, wird der Asperger versuchen, ein möglichst konsistentes Bild der Welt zu entwerfen und umzusetzen. Die eigentümliche Interpretation von Wahrheit und Authentizität, welche für Asperger typisch ist, macht sie zwangsläufig zu potentiellen Störenfrieden und Aussenseitern in der Gruppe, denn unglücklicherweise sind die meisten Menschen mehr an Beziehungen als an Wahrhaftigkeit interessiert.

Es ist deshalb nicht Boshaftigkeit oder Geringschätzung, wenn der Asperger bei der Vorstellungsrunde vergessen wird. Ein solcher Vorfall ist vielmehr Ausdruck davon, dass sich der Asperger auf eigene Art entwickelt hat. Er passt nicht mehr zu den Vorstellungen, die man früher von ihm hatte, aber er entwickelte sich auch nicht auf typische Art. Er ist auf eine Art anders geworden, auf welche keine Etikette passt. Wo eine Person nur noch für sich steht und nicht mehr mit einer Gruppe oder einer Marke in Verbindung gebracht werden kann, besteht Gefahr, dass diese Person vergessen geht.

Leben im Schatten
Wer nicht auffällt, lebt ungestört. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte Nachricht ist allerdings, dass eine Person, die vergessen geht, weder ge- noch befördert wird. Im beruflichen Umfeld muss ein Asperger feststellen, dass er auf einer Position stecken bleibt, auf welcher er sein Können nur schlecht entfalten kann.

Was ist zu tun mit Aspergern in unserer Gesellschaft? Solche Personen sind wie verborgene Perlen. Mit ihrem Fachwissen stellen sie ein Potential dar, welches in vielen Fällen brachliegt, weil es nicht beachtet wird. Mit ihrer Authentizität wären sie fähig, Zusammenhänge in einer Firma oder der Gesellschaft auf eine Art darzustellen, welche frei von gesellschaftlichen Rücksichtnahmen und falschen Versprechungen ist. Das ist nicht immer nett, aber ehrlich und häufig notwendig. Asperger sind stark darin, eine andere Meinung einzubringen. Wo Meinungsvielfalt angestrebt wird, in Führungsgremien beispielsweise, könnte die Meinung eines Aspergers bereichernd sein.

Asperger erregen wenig Aufmerksamkeit. Auf diese Weise werden sie oft zu Aussenseitern, obwohl sie nicht am Rande der Gesellschaft stehen. Was Menschen mit Asperger hilft, ist Anteilnahme in Form von bewusster Aufmerksamkeit. Wer sich auf einen Asperger einlässt, braucht möglicherweise ein grosses Mass an Frustrationstoleranz. Der Kontakt zu Aspergern kann zu Einsichten führen, welche anstossen und verunsichern. Solche Irritationen können noch verstärkt werden, wenn der Asperger ein Verhalten an den Tag legt, welches als unsensibel empfunden wird. In einer Situation dieser Art reagieren die Betroffenen üblicherweise, indem sie sich abwenden. Eine solche Reaktion ist allerdings für beide Seiten unbefriedigend. Stattdessen sollte die betroffene Person neugierig bleiben und nachfragen, warum und wie der Asperger zu seinen Ansichten gelangt ist. Für die Beziehung mit Asperger gilt: Explizit ist besser als implizit. Asperger zwingen ihr Umfeld zu einem erhöhten Mass an Offenheit. Das ist der Preis, welcher das gesellschaftliche Umfeld zu zahlen hat, will es Asperger und deren Potential aus dem Schatten holen.

Benno Luthiger

Benno Luthiger hat Physik und Ethnologie studiert und in Betriebswirtschaften promoviert. Er arbeitet als Software-Entwickler bei den Informatikdiensten der ETH Zürich.

Ein Text von Iris Köppel über ihr Leben mit Assistenz

Meine Eltern sind eher früh verstorben und ich stand vor der Tatsache, von ihnen keine Unterstützung mehr bekommen zu können. Solange meine Mutter noch lebte, stand sie mir in allen wesentlichen Lebensbereichen zur Seite. Noch im Alter von gut dreissig Jahren wohnte ich mit meiner Mutter zusammen. Eigentlich hätte ich sehr gerne so gelebt wie Gleichaltrige – nämlich selbstständig! Doch ich bewältigte die Anforderungen des Erwachsenenlebens nur zum Teil. Nach dem Tod meiner Mutter erlebte ich verschiedenste Wohnsituationen: wohnen in der Klinik, bei guten Bekannten, in einer therapeutischen Wohngemeinschaft und schliesslich in der eigenen Wohnung. Auch dort war ich auf Hilfe angewiesen. Lange Zeit sorgten sehr nette Menschen für mich. Im Gegenzug bot ich meine Arbeitskraft in jenen Bereichen an, die meinen Möglichkeiten entsprachen. Trotzdem war ich nicht wirklich glücklich über diese Betreuungssituation. Ich fand, es könne nicht sein, dass gewisse Menschen sich intensiv für mich einsetzten, praktisch ohne Entgelt und ohne familiäre Bande. Immer wenn ich über die ganze Lebenssituation nachdachte, kam ich zum Schluss, dass meine Betreuung eigentlich eine gesellschaftliche Aufgabe sein müsste. Natürlich, es gibt Wohnheime, doch diese entsprechen definitiv nicht meinen Bedürfnissen.

Inzwischen bin ich in der glücklichen Lage, dass wir ein Assistenzsystem für mich aufbauen konnten. Finanziert wird dieses Modell primär über den Assistenzbeitrag und die HE (Hilflosenentschädigung) der IV. Damit ein solches System entstehen kann, ist man zunächst auf den guten Willen aller Beteiligten angewiesen. Ich bin ausserordentlich froh, die Organisation und Verantwortung für meine Assistenz in guten Händen zu wissen. In meinen Augen ist dies ein sehr wichtiger Aspekt für das Gelingen dieser Art von Wohn- und Lebensbegleitung. Ich bin darauf angewiesen, dass jemand für mich den Überblick behalten, mögliche Assistenzpersonen prüfen und in allen wesentlichen Belangen die Führung übernehmen kann. Eine grundlegende Voraussetzung für mögliche Assistenzpersonen liegt im Interesse an Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen. Ein eigentliches Vorwissen ist meiner Ansicht nach nicht zwingend notwendig, dies kann sich jede interessierte Person aneignen. Eine grosse Herausforderung war es für mich, zu lernen, mit verschiedensten Assistentinnen und Assistenten zusammenzuarbeiten. Es braucht jeweils einiges an Zeit und Geduld, bis ich zu jemandem Vertrauen fassen kann. Ich weiss, dass es unmöglich ist, mein Assistenzbedürfnis nur durch eine Person abdecken zu lassen. Zudem hat ein Netz viele Vorteile: Beispielsweise ist die Ferienvertretung sichergestellt, täglich kann jemand anwesend sein, jede Person hat besondere Talente, welche sie einbringt und fällt einmal jemand aus, gibt es Vertretungsmöglichkeiten. Gegenseitige Absprachen der Assistenten unter sich sind eine entscheidende Voraussetzung einer gelingenden Arbeit. Für mich ist es von zentraler Bedeutung, dass sich alle Personen in ähnlichen Situationen gleich verhalten und dieselben Aussagen machen. Entstünden zu viele Unterschiede, könnte ich das Ganze nicht mehr richtig einordnen, meine Spannung würde ansteigen.

Wie sieht nun meine Wohn- und Lebenssituation konkret aus? Ich wohne in einer eigenen Wohnung, zusammen mit meinem Hund. Jeden Abend verbringt ein Assistent oder eine Assistentin einige Stunden mit mir zusammen. Wir haben herausgefunden, dass ich psychisch bedeutend stabiler bin, wenn ich die Abende nicht alleine verbringe. Auftauchende Fragen können so täglich geklärt werden. Ausserdem kochen wir jeweils ein vollständiges Abendessen. Die Reste davon friere ich ein, auf diese Art bekomme ich täglich auch ein warmes Mittagessen. Die Assistenten stehen ebenso im Einsatz, wenn ich mit der Bahn unterwegs gewesen bin und am Hauptbahnhof ankomme. Sie holen mich auf dem Perron ab, dadurch schaffe ich eine spannungsarme Rückkehr nach Hause. Eine weitere Aufgabe der Assistenten ist es, mich an Kurse oder zu Ärzten zu begleiten. Ich erhalte im Weiteren Unterstützung beim Führen meines Haushaltes, beim Überblick über die Finanzen oder beim Verkehr mit Behörden. Muss mein Hund zum Tierarzt, wird er von einem Assistenten begleitet, angeordnete Behandlungsmassnahmen setzen wir gemeinsam um. Kleidereinkauf, Menüplanung, … Ich könnte die Aufzählung der Arbeitsbereiche meiner Assistenten noch lange weiter führen. Sie sind immer dann für mich da, wenn ich sie brauche, wenn ich etwas nicht alleine bewältigen kann. Manchmal führen sie Arbeiten in Vertretung von mir durch, oft machen wir etwas gemeinsam. In Notfällen ist stets jemand erreichbar und wenn nötig in kurzer Zeit bei mir.

Ich bin sehr dankbar, dass wir diese Lösung für mich entwickeln konnten. Anpassungen an Veränderungen sind sehr rasch möglich, im Zentrum stehen wirklich meine jeweilig aktuellen Bedürfnisse. Ich wünsche, dass solch wertvollen Lösungen für viele Menschen mit ASS umgesetzt werden können! Der Bedarf nach Assistenz wird vielen Menschen glücklicherweise immer bewusster. Ich finde das Leben, so wie ich es führen darf, eine riesige Chance!

Matthias Huber, vom Asperger-Syndrom betroffen, er arbeitet an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Bern.

Es fasziniert, was alles „Alltag“ ist, was nicht erwartet wird, aber erfreulicherweise eintritt; was gedacht, aber nicht erwartet wird; was man selber niemals denken könnte, aber ein Anderer denkt; was nicht nur man selbst, sondern auch andere denken.

Im Alltag bin ich manchmal mitten drin, wenn es um mich und meine eigenen Gedanken geht; manchmal vollkommen daneben, wenn ich etwas sogenannt Nicht-Alltagstaugliches tue. Im Alltag bin manchmal draussen. So, dass ich es bemerke und darunter leide. Und manchmal bin ich so weit weg, dass es mir nicht auffällt, wenn ich nur mich und mein Wahrnehmen und Denken erkenne. Fasziniert sein. Wer fasziniert ist, wundert sich auch oft…

Ich stehe auf... Mich fasziniert, dass ich sehr schnell wach werde und aufschnellen kann, mit oder ohne Wecker. Mich wundert, dass ich am liebsten in meinem Schlafanzug zur Arbeit gehen würde. Wer fasziniert ist und sich wundert, ärgert sich auch oft. Mich ärgert, dass ich nicht mit dem Schlafanzug arbeiten gehen kann. Früher, mit 17 Jahren, während eines Spital-Praktikums, habe ich jeden Abend nach dem Duschen in den Kleidern geschlafen. Unmöglich wäre es gewesen, mich am Morgen aus dem Pijama zu schälen, welches in der Nacht eine angenehme, gleichmässig verteilte Temperatur über meine Körperoberfläche gelegt hatte. Temperaturunterschiede bedeuteten damals totalen Stress. Wollte ich eine möglichst gute Leistung erbringen im Praktikum, hiess dies, den Stress vor und nach der Arbeit möglichst gering zu halten. Dazu gehörte, eine möglichst gleichbleibende Körpertemperatur unter Zuhilfenahme von Kleidung und unter Berücksichtigung der Hygienevorschriften.

Ich gehe aus dem Haus... Mich fasziniert, dass ich mich immer an denselben Ort im Lift stelle. Mich wundert, dass ich mich immer zuerst im Spiegel anschaue, bevor ich mich an denselben Ort im Lift stelle. Mich ärgert, dass ich oft erst im Liftspiegel erkenne, dass meine Brille schief hinter den Ohren hängt oder Zahnpasta an meiner Backe klebt. Obwohl ich im Bad in den Spiegel geschaut hatte. Früher - vergass ich oft in den Spiegel zu schauen und vergass damit auch mein Gesicht und die Erinnerung daran, wie ich aussah.

Ich gehe einkaufen... Mich fasziniert, dass ich am Morgen überwiegend immer dasselbe einkaufe: Schokodrink und Weggli. Mich wundert, dass ich immer jeden Morgen das Gleiche haben muss. Mich ärgert, dass ich es nur dann einkaufen kann, wenn ich genügend entspannt bin, damit ich am Tresen in der Lage bin, meine Bestellung mündlich aufzugeben. Und dass ich es nur dann einkaufen kann, wenn nicht viele Kunden vor Ort sind. Und nur dann, wenn die Reihenfolge der Kunden, die bedient werden, einigermassen klar ist. Und nur dann, wenn ich überzeugt bin, dass ich es schaffe, mündlich zu bestellen. Früher - war es mir selten möglich, in Bäckereien und Metzgereien einzukaufen, wenn ich mit meiner Stimme sagen musste, was ich haben will. Ideal waren lange Einkaufszettel zum Abgeben, schweigend, ohne etwas sagen zu müssen oder grössere Einkaufszentren, in denen ich mich ohne fremde Hilfe oder ohne Kontaktaufnahme dorthin bewegen konnte, wo ich hin wollte oder musste.

Ich fahre mit dem Zug... Mich fasziniert, dass Menschen sich in Züge setzen um von A nach B zu gelangen. Mich wundert, dass je nach Lokführer der Bremsweg an Haltestellen sehr unterschiedlich lange ausfällt. Mich ärgert, dass jeder Zug anders riecht und dasselbe auch bei jedem Waggon, unabhängig davon, ob mit oder ohne Menschen bestückt. Früher - sass ich beim Zugfahren meist draussen im Gang auf dem Klappsitz. Dort war ich am häufigsten und über die insgesamt längste Zeit alleine, die Gerüche eher gleichbleibend-metallisch, das Licht eher schummerig und die Stimmen der Reisenden fern, sodass ich mir nahe sein konnte. Nach ca. einem halben Jahr täglichen Zugfahrens habe ich mich ein paar Mal in ein Abteil gesetzt, immer ans Fenster, damit ich mich nicht für jemand anderen wegbewegen musste. Und immer im Stress, weil ich wusste, dass sich jemand für mich wegdrehen oder weg bewegen musste, damit ich aus dem Abteil konnte. Und immer im Stress, weil ich nicht wusste, ob es bemerkt wird, dass ich aus dem Abteil will. Und immer in Angst, nicht genügend früh aufstehen zu können und so den Ausstieg zu verpassen. Und immer in Angst, zeitlich niemals herausfinden zu können, ab wann ich mich bereit machen musste, damit ich pünktlich war. Und immer in Angst, die korrekte Haltestelle zum Aussteigen nicht zu bemerken. Vor lauter Nachdenken, ob ich die Haltestelle auch erkennen würde, ob ich es schaffen würde zum richtigen Zeitpunkt aufzustehen, bin ich gedanklich absorbiert mit diesen Gedanken aus Versehen in den falschen Zug gestiegen, oft sitzen geblieben, wo ich hätte aussteigen müssen oder hektisch ausgestiegen, viel zu früh.

Ich steige aus dem Zug… Mich fasziniert die Bodenbeschaffenheit mancher Züge (eine der musterhaften Bodenbeschaffenheitsanordnungen nenne ich „Chratzerli“ – leider sind sie ausgestorben, in neuen Zügen nicht mehr vorhanden). Mich wundert, dass die Abnützung des Bodens in einer bestimmten Weise immer gleich verteilt ist. Als würden sich alle Reisenden immer nur in bestimmten Bewegungsbahnen aufhalten. Als würden sie ihre Bewegungsbahnen absichtlich oder unbewusst einschränken. Als hätte einer mal damit angefangen, sich mit den Füssen so dem Boden entlang zu bewegen und es sich die Nachkommenden zum Modell gemacht hätten - ohne zu überlegen, ob es Sinn macht. Aber vielleicht sind aus den Fussspuren mit der Zeit Trampelpfade geworden und aus den Trampelpfaden Wege, die berannt, bewandert und befahren wurden. Und dies wiederum führte dazu, dass die Menschen mit der Zeit erkannten, welche Wege ihnen wichtiger waren als andere. Und das haben sie gemeinsam herausgefunden. Mich ärgert, dass die Passagiere, die aus dem Zug steigen, nur ca. zwei bis drei Schritte gehen und dann stehen bleiben, mitten drin, anstatt sich vom Ausgang zu entfernen, um dann zu schauen, wo sie hin müssen. Als hätten sie Angst, in einen Abgrund zu stürzen, den es gar nicht gibt. Früher - bin ich fast verzweifelt, wenn ich glaubte, in einem stehenden Menschengewühl, das sich nicht bewegte, für immer gefangen sein zu müssen.

Ich komme bei der Arbeit an... Mich fasziniert, dass ich anhand der Parfüm- und Duschmittel-Düfte erkennen kann, wer schon am Arbeiten ist. Das ist ein Vorteil, so kann ich mir bereits gewisse Sätze bereit legen oder mich auf potentielle Themen vorbereiten, die kommen könnten. Dann bin ich nicht überrumpelt und laufe nicht Gefahr, durch eine Flexibilitätseinschränkung bezogen auf meine soziale Reaktionsfähigkeit aufzufliegen. Mich wundert, dass ich mein eigenes Duschmittel nicht so stark wahrnehme wie das der Anderen. Schade, denn habe ich habe es mir doch gekauft, weil es mir olfaktorisch passt. Aber nein, die anderen Menschen werden mehr davon haben als ich selbst. Mich ärgert, dass mein Riechorgan generell zu stark Geruchsmoleküle wahrnehmen kann. Früher - habe ich oft in den Ärmel geatmet, weil ich mich auf diese Weise vor den Geruchsmassen abschirmen konnte und dann nur noch meine eigene Haut und den Pullovergeruch in der Nase hatte. Als Kind habe ich entdeckt, dass Menschen, wenn sie an einem vorbei gehen, erst nach ein paar Schritten „riechen“, riechbar werden. Das heisst, der Geruch hinkt der Materie hinter her. Diese Erkenntnis hat meine Leben stark erleichtert, denn von diesem Tag an, habe ich oft die Luft angehalten, nachdem jemand an mir vorbei gegangen war. Also ich habe normal geatmet – Person auf gleicher Höher (immer noch normal geatmet) – nach zwei Sekunden die Luft angehalten, denn nun kam der Duft des Menschen hinterher – und wieder geatmet. Eine durchaus akzeptable Strategie in niedrigfrequentierten Fussgängerzonen. Durchaus atmungsproblematisch, wenn es zu viele sind….

Ich arbeite... Mich fasziniert, dass ich immer wieder in den Austausch komme mit Kindern und Jugendlichen mit Autismus. Mich wundert, wie einfach ich mit Menschen mit Autismus in den sprachlichen und gedanklichen Austausch komme. Früher - war fast alles anstrengend, was mit Sprechen und dem Austausch mit neurotypischen Menschen zu tun hatte. Oft habe ich nur gesprochen, wenn ich mir vorher im Kopf den ganzen Text vorbereitet hatte. Das dauerte meist derart lange, dass sich, wenn ich dann zum Sprechen bereit war, das Thema in der Zwischenzeit geändert hatte und ich mit meinen Aussagen der Umgebung zu keinem weiterführenden Dialog verhalf, stattdessen Kopfschütteln und Stille auslöste.

Ich esse Zmittag... Mich fasziniert, dass mir mein Körper sagt, wann ich hungrig bin, indem er mich zappelig und unruhig macht. Mich wundert, dass ich es selten direkt erkenne und mich dann frage, warum meine Konzentration nachlässt oder ich plötzlich im Kopf (und auch auf dem Pult) nichts mehr ordnen kann. Mich ärgert, dass ich oft alleine im Büro essen muss (obwohl ich sehr gerne im Austausch mit meinen Arbeitskolleg-/innen bin), weil mir essen in Gesellschaft schnell zu viel wird, weil ich mich derart anstrengen muss, sozial adäquat zu reagieren, weil sprachlich, mimisch, gestisch und „geräuschlich“ viel läuft in einem gemeinsamen Essensraum. Und dies in kurzer Zeit, wodurch ich, würde ich dort aktiv mitmachen, meine Arbeitsleistung gefährden würde. Was das Letze wäre, was ich will! Ich möchte ein guter Arbeiter sein und meinen Arbeitskollegen, den Klienten und der Gesellschaft etwas bieten. Früher - war dies auch schon so, nur noch stärker ausgeprägt, sodass ich erst am Ende des letzten Schuljahres in der Oberstufe an einer Schulparty teilgenommen habe. Ich wusste, danach musste ich in diesem System nicht mehr richtig funktionieren.

Ich arbeite am Nachmittag weiter... Mich fasziniert, mich wundert, mich ärgert das Gleiche wie am Vormittag. Nur müder…

Ich werde angesprochen... Mich fasziniert, dass Menschen dieses Bedürfnis haben, sich zu allen möglichen Zeiten und Gelegenheiten anzusprechen, auch dann, wenn nicht viel dabei heraus kommen muss. Einfach so. Mich wundert, dass das reicht, um einen guten Kontakt aufrecht zu erhalten oder weiter aufzubauen. Das ist doch einfach genial. Ich denke, das hat die Natur gut eingerichtet. Mich ärgert, dass dies, sobald ich angesprochen werde, wie ein Überfall auf mich wirkt, und ich keinen klaren Gedanken fassen kann. Früher merkte ich teilweise zu spät, dass ich demnächst angesprochen werden würde, sah es nicht kommen und fühlte mich überrumpelt.

Mich wundert, dass mir heute vieles einfacher fällt als früher. Dass ich mich immer noch an so vieles erinnere. Dass ich es vermutlich nie vergessen werde. Dass ich die vielen Erinnerungen und Überlegungen heute noch hervorholen und mit dem Jetzt vergleichen kann. Dass ich bin, wie ich bin. Und dass die Menschen sind, wie sie sind. Und dass ich ein Mensch bin. Ich bin fasziniert.

Der Name von Dr. Girsberger, 62, ist seit einigen Jahren aus der Autismus-Landschaft in der Schweiz nicht mehr wegzudenken. Er engagiert sich, obwohl ihm auch immer wieder Steine in den Weg gelegt wurden.

Herr Dr. Girsberger, wie lange arbeiten Sie schon als Facharzt im Bereich Autismus und weshalb hat es Sie gereizt, sich innerhalb dieses Themas zu spezialisieren?

Seit 2007 habe ich mich immer mehr im Bereich des Autismus spezialisiert. Dafür gab es zwei Gründe: Über die Jahre hatte ich vermehrt Kinder in meiner Praxis, die zwar eine ADHS- oder POS- Diagnose hatten, bei denen ich aber auch ganz andere Symptome sah. Die auffälligsten Zeichen, die ich entdeckte, waren: grosse Schwierigkeiten im Umgang mit Gleichaltrigen, einseitige intensive Interessen, auffälliges Kontaktverhalten, usw. - Ich kam zum Schluss, dass die ADHS-Diagnose nicht genügte, sondern dass es sich da eher um Varianten von Asperger handelte . Ich vertiefte mich in die vorhandene Literatur, vor allem aus dem englischsprachigen Raum, und fühlte mich immer mehr bestätigt. Auch hatte ich gemerkt, dass es in meiner Familie Selbstbetroffene hat (mein Vater plus zwei seiner Schwestern). Mein Vater war mild, die Schwestern stark beeinträchtigt. So wuchs mein Knowhow immer weiter – ich beschäftigte mich so intensiv mit dem Thema, dass ich anfing Fachartikel zu publizieren und 2009 mein erstes Buch zu schreiben. Es dauerte aber noch vier Jahre, bis es publiziert wurde.

Zum Thema Autismus gibt es weltweit verschiedenste Zahlen – Australien redet von bis zu 1:50, aus dem USA hört man zwischen 1:60 und 1:90, in der Schweiz von 1 von 100? Wie schätzen Sie den Anteil von Menschen mit Autismus in der Schweiz ein?

Die unterschiedlichen Zahlen sind kein Ausdruck dafür, dass Autismus verschieden häufig vorkommt, sondern dass es in den einzelnen Ländern Unterschiede gibt, wann eine Diagnose gestellt wird. Am ehesten vergleichen könnte man das vielleicht damit, ab welcher „Höhe“ man von hohem Blutdruck spricht und dieser diagnostiziert wird – da gibt es weltweit erhebliche Unterschiede. In Australien wird das Autismus-Spektrum zum Beispiel weiter definiert, dementsprechend gibt es auch mehr Diagnosen, aber nicht unbedingt mehr Menschen, die betroffen sind. In Australien wird jedes Kind erfasst, das aufgrund seiner ASS Unterstützung in der Schule braucht. So macht die Diagnose Sinn. So eine Unterstützung bringt nicht unbedingt Mehrkosten mit sich, sie kann auch aus einer Leistungsanpassung bestehen oder aus besonderen Abmachungen. So wollen zum Beispiel Kinder mit Asperger nicht weiter üben, wenn sie ein Thema beherrschen, dann braucht es klare, passende Abmachungen und nicht immer spezielle Ressourcen oder die Begleitung durch eine Fachperson.

In England, den USA oder Australien wird im Bereich Autismus viel geforscht, in der Schweiz sind Forschungen in Sozialgebieten leider sehr selten, deshalb gibt es auch wenig Zahlen zum Thema Autismus. Ein Anteil von 1:100 ist als Analogie zu ähnlich hoch entwickelten Ländern wie den Erwähnten sicher vernünftig und realistisch. Es gab allerdings eine Studie in Holland, wo in drei verschiedenen, aber etwa gleich grossen Städten bis zu dreimal mehr Diagnosen gestellt wurden. Im Silicon Valley in den USA leben gar bis zu zehn Mal mehr Menschen mit einer Diagnose als an anderen Orten.

Es gibt verschiedene Formen und Ausprägungen innerhalb des Autismus-Spektrums. Wie würden Sie den Anteil von Personen mit frühkindlichem Autismus, von high functioning oder atypischem Autismus und von Aspergern prozentual etwa einschätzen?

Grob geschätzt wird es etwa einen 10-20 % Anteil an frühkindlichem Autismus geben, die restlichen 80-90% teilen sich auf die anderen Autismus-Formen auf. Aber diese Unterscheidungen wird es so bald nicht mehr geben, es werden in Zukunft drei Abstufungen an Unterstützungsbedarf definiert: hoch, mittel und tief. Im hohen Bereich werden etwa 10-20% sein, im mittleren Bereich ca. 30% und mit niedrigem Unterstützungsbedarf etwa 50%. Im Moment scheint es vermehrt Asperger-Diagnosen zu geben, weil sich mittlerweile vermehrt auch erwachsene Betroffene diagnostizieren lassen.

Jemand hat mal letzthin gesagt, „Ich bin doch kein Autist, ich habe Asperger“. Was halten Sie von dieser Aussage? Und wie wichtig finden Sie es, eine Diagnose zu erhalten?

Jeder Begriff hat seine eigene Belastung, seine Färbung - Autismus geht zurück auf Bleuler, der Autismus als ein Symptom der Schizophrenie definierte; erst viel später wurde der Begriff Autismus durch Kanner und Asperger auch auf Kinder angewendet, die auffällig waren. Wohl auch deshalb hat Autismus den Beigeschmack von starker Beeinträchtigung. Die Leute denken vielleicht, ich gehöre ins Spektrum, aber ich betrachte mich nicht als behindert.

Ob es sinnvoll ist eine Diagnose zu erhalten, ist einfach gesagt – die Diagnose muss nützlich und hilfreich sein. Dies ist in verschiedener Hinsicht möglich, z.B. wenn es um die Unterstützung durch die

IV geht oder auch allgemein, dass man die richtige Unterstützung/Hilfe bekommt. Wenn ich merke, ich bin ein Aussenseiter, dann kann die Diagnose eine grosse Hilfe sein, um die eigene Situation besser zu verstehen und auch um Selbsthilfe möglich zu machen. Das geht nur, wenn man die Diagnose kennt und sich damit identifiziert.

Wir lernen auch junge Menschen kennen, die sich weigern, sich einer Diagnose-Abklärung zu stellen. Was würden Sie diesen raten?

Ich habe das bei Teenagern, selten auch bei jungen Erwachsenen, schon erlebt. Man hat ein falsches Bild von Autismus und Angst, krank gemacht zu werden. Das gibt der Diagnose einen negativen Beigeschmack, es ist aber ein Missverständnis. So stellt sich die Frage, wie man ihnen diese Angst nehmen kann – es ist wichtig, mit den Bezugspersonen zu arbeiten und ihnen nützliche Ratschläge zu geben. Wenn sich jemand wehrt, muss ja jemand aus dem Umfeld das Thema angesprochen haben, also kann dies auch eine Zielgruppe für Hilfsangebote sein.

Sie haben schon verschiedene, erfolgreiche Bücher zum Thema Autismus geschrieben. Was reizt Sie daran, Ihr Wissen in dieser Form weiter zu geben? Gibt es Themen, die Sie auch noch gerne in Buchform festhalten möchten?

Als ich mich auf das Thema Autismus eingelassen habe, wurde ich anfangs von anderen Ärzten fast „angefeindet“, weil ich ihre Diagnosen in Frage stellte. Ich wollte meine Theorie und mein Konzept, dass es sehr unterschiedliche Kinder im Autismusspektrum gibt, schriftlich festhalten. Ich wollte ein Buch schreiben, um ernst genommen und öffentlich anerkannt zu werden. Autismus sollte nicht nur eine schwere Beeinträchtigung sein, sondern auch viel unauffälligere Formen beinhalten – es war für mich sehr wichtig, dass diese Erkenntnis bekannter wurde.

In einem weiteren Buch möchte ich über die Möglichkeiten von Therapien und Hilfestellungen für die Betroffenen und ihr Umfeld schreiben. Man soll nicht von der Idee ausgehen, alle brauchen eine bestimmte Form von Therapie oder Diät oder Ähnlichem, nein, individuelle Ansätze sind nötig und werden gebraucht. Was TEACCH auf pädagogischer Ebene sagt, wäre auch auf Therapieebene wichtig. Es braucht autismus-spezifisches Fachwissen, um den richtigen Weg zu finden und den gemeinsamen roten Faden für alle Beteiligten zu sehen. Es gibt eine Vielfalt, aber doch auch viel Gemeinsames. Therapie ist übrigens immer auch Hilfe zur Selbsthilfe, man kann zum Beispiel auch das Internet nutzen, um sich auszutauschen.

Ich bin noch dran, das Konzept „So macht me das“, das ich bisher in Broschüren-Form veröffentlicht habe, auch als App zu erarbeiten. Die Idee dieser App ist es, dass Betroffene und Angehörige ihre eigenen Handlungsabläufe mit eigenen Bildern einfach zusammenstellen und dann auf einem portablen Bildschirm abrufen können. Dies muss auf unterschiedliche Entwicklungs-Niveaus angepasst werden. Die Betroffenen können sich dann damit selber unterstützen.

In der Schweiz ist in der „Autismus-Landschaft“ viel passiert in den letzten Jahren. Wo sehen Sie die grössten Veränderungen?

Das modernisierte Konzept von Autismus als breites Spektrum hat sich innert weniger Jahre durchgesetzt. Dies hat bei stark betroffenen Menschen zum Teil gemischte Gefühle ausgelöst. Es entstand der Eindruck, dass man so lange gekämpft hat und jetzt plötzlich auch Personen unterstützt werden, die doch viel weniger betroffen sind. Diese Entwicklung ist aber sinnvoll, auch weil moderne Studien sagen, dass die weniger stark Betroffenen ein viel höheres Risiko haben, psychische Probleme zu bekommen. Sie stehen unter grösserem Druck, „normal“ zu funktionieren und die gleichen Ziele wie neurotypische Menschen zu erreichen, was leider viele krank macht.

Und wo gibt es noch viel zu tun? Wo bestehen im Moment aus Ihrer Sicht die grössten Herausforderungen? Was werden die Themen der Zukunft sein?

Die grössten Herausforderungen liegen sicher in der Inklusion von Kindern mit Autismus in die Volksschule und im Anschluss daran die Integration der Menschen mit ASS in die Berufswelt. Im Schulbereich sind wir schon ein bisschen weiter, die Tatsache der Integration ist unbestritten, auch wenn die Umsetzung viele Schwierigkeiten bietet. Im Berufsleben ist alles doppelt und dreifach schwierig, da sind weitere Massnahmen dringend nötig.

Als Zweites muss es auch viel mehr niederschwellige Formen von betreutem Wohnen geben. Viele Erwachsenen leben zur Zeit noch zuhause, weil es keine Alternativen gibt. In dem Bereich sind uns andere Länder weit voraus. Die Gesellschaft muss erkennen, dass sich durch die Integration von Menschen mit Autismus ins „normale“ Leben langfristig auch Kosten sparen lassen.

Kennen Sie Projekte in anderen Ländern, bei denen sich die Schweiz noch etwas abschauen kann?

Es gibt einige Projekte, die einzelnen Schulhäusern mehr Kompetenzen geben, mit vorhandenen Ressourcen anders umgehen. In diesen Schulen wird geschaut, dass alle Personen, die im Schulhaus arbeiten, ein gewisses Knowhow über ASS haben. Es soll nicht in erster Linie eine einzelne Fachpersonen etwas für ein Kind tun, sondern das ganze Schulhaus ein Umfeld schaffen, damit eine Integration gelingen kann. Als kleines Beispiel aus dem Sportunterricht; dort ist es häufig sehr laut, was für Kinder mit ASS eine grosse Belastung ist. So bestimmen solche Schulen im Sport zum Beispiel Kinder als „Wächter der Stille“ – sie sagen, wenn es zu laut wird. Das Kind mit ASS erträgt so das Dabeisein viel besser und es ist nicht die Lehrperson, die ständig reklamieren muss. Dieses kleine Beispiel zeigt, dass es viele Möglichkeiten gibt, wie eine autismus-freundliche Atmosphäre geschaffen werden kann.

Welche neuen Projekte werden und möchten Sie persönlich in den nächsten Jahren noch anpacken?

Mein nächstes Projekt zielt genau darauf hin. Ich werde mit interessierten Personen, die ich aus der Lehrerfortbildung kennengelernt habe, zusammen Schulen suchen, die innerhalb eines Pilotprojektes ihre Schule besser geeignet für Kinder mit Autismus machen wollen. So soll die Integration einfacher möglich werden und alle Beteiligten entlastet werden. Nachher hoffe ich natürlich, dass sich diese Art „Schule“ weiter ausbreiten wird.

Bei Menschen, die im Umfeld von Selbstbetroffenen leben, ist es immer eine wieder eine grosse Herausforderung, auf unerwartete Situationen reagieren zu müssen – haben Sie Tipps, wie zum Beispiel Eltern oder Partner in solchen Situationen vermehrt agieren statt reagieren könnten?

Wichtig ist, sich fachliche Hilfe und/oder fachkundige Tipps von anderen Angehörigen zu holen. Auch über Austauschplattformen wie das Autismusforum (www.autismusforumschweiz.ch) kann man sich viele Tipps und Unterstützung aus erster Hand holen. Man darf nicht meinen, dass man durch alle Probleme alleine durch muss, das würde es nur noch schwieriger machen.

Sie setzen viel Kraft und Zeit für Ihre Arbeit und damit für Menschen mit Autismus ein. Wo tanken

Sie wieder auf und holen sich die Energie für Ihre herausfordernden Tätigkeiten?

(Herr Girsberger muss sich die Antwort recht lange überlegen ;-)). Mein wichtigster Ausgleich ist Lesen – und zwar alles Mögliche - Nachrichten, Belletristik, Krimis und auch Fachliteratur. Meine momentanen Lieblingsbücher sind das "Rosie- Projekt" und die Milleniums- Trilogie von Stieg Larsson. Auch von Patrick Süskind habe ich alle Bücher verschlungen. Daneben wandere ich gerne, fahre Velo und bin gerne draussen in der Natur.

Es ist ein riesen grosses Engagement und viel Reflexionsarbeit von Ihrer Seite her zu spüren...

Ich interessiere mich einfach für Kinder, die anders sind und nicht krank. Meine wichtigste Aufgabe ist es, den Eltern zu helfen, die Besonderheiten ihrer Kinder zu akzeptieren und besser lernen damit umzugehen. Mühe machen mir nicht die Betroffenen und ihre Familien, sondern übermühsame Behörden, Schulen oder die IV – aber nie die Betroffenen selber. Eine gewisse Machtlosigkeit, dass ich nicht viel und schnell etwas ändern kann, macht mich manchmal traurig.

Wir bedanken uns herzlich für dieses Interview und die Offenheit und wünschen Herrn Dr. Girsberger für die Zukunft alles Gute!

Dr. Tony Attwood, ein Mann, der für seinen Beruf lebt

Er arbeitet an mindestens sechs Tagen in der Woche, bereist die ganze Welt, um die Leute an seinen Kenntnissen teilhaben zu lassen und gehört zu den renommiertesten Forschern im Bereich Asperger.

„VERSUCHT DIE WELT MIT DEN AUGEN DER ANDEREN ZU SEHEN UND SIE SO ZU VERSTEHEN“

Der klinische Psychologe Tony Attwood hat sich auf das Thema Asperger-Syndrom spezialisiert und schrieb neben seiner praktischen Arbeit zahlreiche Bücher zum Thema.

Wann und in welcher Situation sind Sie zum ersten Mal in Ihrem Leben bewusst dem Thema „Asperger“ begegnet?
Tony Attwood: In den späten 80er Jahren diagnostizierte ich kleine Kinder mit Autismus, fand aber mit der Zeit heraus, dass sie grosse Fortschritte machen konnten – das passte nicht zur traditionellen Diagnose Autismus. Eine Arbeitskollegin hatte den gleichen Eindruck und wir bemerkten, dass unsere Beschreibungen mit denjenigen von Hans Asperger übereinstimmten. Wir sahen auch, dass die Beschreibungen noch auf viele andere Kinder zutrafen.

Was reizt oder interessiert Sie an diesem Thema? Warum investieren Sie Ihre Kraft und Energie genau darin?
Ich liebe Kinder und Jugendliche – ich schätze alle ihre Qualitäten, die sie haben, sie bringen mir sehr viel bei.

Sie bringen Ihnen etwas bei?
Ja, ich lerne, wie verschieden die Welt sein kann oder wie es ist, mutig zu sein. Sowohl in meiner wie auch in der Familie meiner Frau gibt es selbstbetroffene Familienmitglieder, so zum Beispiel ein Sohn von mir.

Wie können wir uns „eine Woche“ im Leben von Tony Attwood vorstellen?
Montags arbeite ich mit Betroffenen bei mir zuhause. Ich treffe Familien, die ich zum Teil schon seit zehn bis 20 Jahren kenne. Am Dienstag gehe ich ins Spital, wo ich mit ungefähr zehn Wissenschaftlerinnen, die sich auf Autismus und Asperger spezialisiert haben, zusammen-arbeite. Dort unterrichte und trainiere ich auch Kollegen und bin als Mentor für sie tätig. Der Mittwoch ist meistens reserviert für Administration, Telefonkonferenzen, lesen und schreiben. Donnerstag und Freitag reise ich quer durch Australien, um mit Eltern und Fachpersonen zusammenzuarbeiten. Ich arbeite auch am Samstag – behandle Leute bei mir zuhause, bin am Forschen oder schreibe an meinem Buch. Im Moment entwickle ich ein Programm zur Behandlung von depressiven Teenagern. Und am Sonntag mache ich frei – okay hin und wieder – und dann gehe ich radeln, frühstücke in einem Restaurant oder geniesse meinen Garten.

Was waren die grössten Erkenntnisse, die Sie in den Jahren Ihrer Tätigkeit gemacht haben?
Am faszinierendsten ist es für mich zu sehen, wie die Personen mit Asperger versuchen, die „normalen“ Leute zu verstehen. Alles, was sie von ihnen wollen, ist Respekt und dass sie so akzeptiert werden, wie sie sind. Es beindruckt mich sehr, wie Betroffene mit Neckereien, Mobbing, Unempfindlichkeit und Einsamkeit umgehen.

Welches war Ihr eindrücklichstes Erlebnis in Zusammenhang mit Ihrer Arbeit?
Vor ein paar Jahren habe ich Frau Dr. Maria Asperger-Felder in Zürich getroffen (sie ist die Tochter von Hans Asperger und selber eine bekannte Psycho-login) – sie kam in ein Training zu mir und war Teilnehmerin in einer Lerngruppe. Sie wollte etwas von mir lernen - ich hatte riesen Respekt vor dieser Konstellation - aber zum Glück war sie sehr sehr nett.

Was würden Sie Betroffenen oder ihrem Umfeld raten – was sind für Sie die wichtigsten „do‘s and don’ts“?
Gebt alle eure Vorurteile auf – sucht den Kontakt zu einander und redet miteinander. Versucht die Welt mit den Augen der Anderen zu sehen und sie so zu verstehen. Habt keine Angst vor den Unterschieden – anders zu sein ist keine Geisteskrankheit. Seid geduldig damit, die Anderen zu verstehen, nur so könnt ihr von ihnen lernen.

Was genau können denn Betroffene und Nichtbetroffene voneinander lernen?
Es gibt viele verschiedene Arten, ein Problem anzugehen und es zu lösen. Manchmal gibt es wich- tigere Dinge im Leben als Kontakte zu knüpfen und unter Leute zu gehen. Leute mit Asperger sollten realisieren, dass auch neurotypische Personen nicht perfekt sind und Fehler machen.

Was kann die Schweiz im Bereich „Asperger“ von anderen Ländern lernen?
Wie jedes Land ist auch die Schweiz einzigartig. Sie muss ihren eigenen Weg finden, das Thema Asperger anzugehen. Es gibt kein Land, das besser ist als ein Anderes. Schaut von anderen Ländern ab, was sie gut machen und was für die Schweiz auch passen könnte. So ist zum Beispiel in Australien alles sehr dezentralisiert – die Schweiz könnte herausfinden, wie dort Personen, die weit weg wohnen, unterstützt werden. Andere Länder sind sehr weit entwickelt in der Integration von Erwachsenen ins Berufsleben – da könnte vielleicht auch etwas abgeschaut werden. Wo sollte die Politik innerhalb des Themas „Betroffene mit Asperger“ aktiv werden? Wichtig wäre es, wenn Politiker realisieren würden, dass es ein grosses Ziel sein muss, die Betroffenen in die Berufswelt zu integrieren. Sie sollen, wenn es irgendwie geht, nicht von Sozialhilfe abhängig werden.

In welche Richtung denken Sie, wird die Forschung gehen? In welchen Bereichen sind Weiterentwicklungen möglich?
Die Forschung im Bereich Empfindsamkeit und Sinnes-wahrnehmung von Leuten mit Asperger wird hoffentlich noch besser zu Tage fördern, wie Betroffenen geholfen werden kann. Ebenso wichtig wären Fortschritte, wie der Lehrplan für Asperger-Betroffene in der Schule aussehen sollte und wie sie unterrichtet werden könnten. Fortschritte könnten auch im Bereich „wie gehen Aspergers mit ihren Emotionen um“ erzielt werden.

Was möchten Sie persönlich im Bereich Asperger noch erreichen?
Ich würde gerne noch 100 Jahre weiterarbeiten und zuschauen, wie Kinder zu Erwachsenen werden und es schaffen, ihr Leben mit Erfolg zu meistern.

Eine persönliche Frage zum Abschluss: welche persönlichen Ziele haben Sie noch? Was steht noch auf Ihrer „bucket list“?
Eigentlich würde ich gerne ein bisschen weniger arbeiten, aber ich bin irgendwie süchtig nach meiner Arbeit – sie gibt mir eine grosse Zufriedenheit und viel Selbstwertgefühl. Ich denke nicht, dass ich mich irgendwann pensionieren lassen werde, ich werde vielleicht einfach langsam immer ein bisschen weniger arbeiten. Wenn ich mehr Zeit hätte, würde ich gerne noch mehr schreiben – aber mit meiner praktischen Arbeit werde ich wohl nie aufhören; ebenso will ich noch viele Ärzte ausbilden und meine Erfahrungen und mein Wissen weitergeben.

Und so wirklich richtig persönlich, nur für Sie selbst?
Vielleicht schaffe ich es einmal, ein bisschen in meinem Garten zu arbeiten oder öfters zu fotografieren - ich möchte meinen Enkeln ein toller Grossvater sein und auf mein Leben zurück- blicken mit dem Gefühl, etwas erreicht zu haben und für meine Arbeit anerkannt worden zu sein.

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